Robin wird wach, bevor ihr Gehirn wirklich begriffen hat, wo sie ist. Der erste Hinweis ist der Kater hinter den Augen. Der zweite die Wärme neben ihr. Der dritte - der schlimmste - die Stimme in ihrem Kopf: Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte NICHT.

Sie dreht den Kopf. Dunkelhaarig. Bartansatz. Breite Schultern. Niko. Der Niko. Jeromes Niko. Der Mitbewohner ihres Patienten. Ihres ersten Patienten. Des Falls, der ihr in sämtlichen Fortbildungen noch Jahre vorgehalten werden wird. Super. Wirklich. Großartig. Sie schiebt vorsichtig die Bettdecke weg, als würde sie eine Operation ohne Anästhesie durchführen, und versucht, nicht daran zu denken, wie Katastrophal das alles ist.

Sie setzt einen Fuß auf den Boden. Knarren. Natürlich. Okay. Langsam. Keine Panik. Es ist nur ein Ex-Patienten-Mitbewohner. Sie greift ihre Jeans, die am Fußende liegt, zieht sie im Halbdunkel an und sammelt Schuhe, Jacke, Handy und Würde ein - zumindest glaubt sie das. Die Tür öffnet sich mit einem Geräusch, das eindeutig aus einem Horrorfilm stammt. Sie verzieht das Gesicht, schlüpft hinaus und schließt die Tür millimeterweise. Immerhin das gelingt ihr.

Sie steht vor der Treppe, die ihr kilometerweit vorkommt. Die Sorte, bei der jede Stufe einen eigenen Namen, eine eigene Persönlichkeit und eine eigene Schmerzachse hat. Erster Schritt: leises Knacken. Zweiter Schritt: lautes Knarzen. Dritter Schritt: vollständiger Verrat. Die Stufe quietscht, als hätte sie einen persönlichen Groll. Robin presst die Lippen zusammen, atmet durch und geht weiter. Vielleicht hört sie ja niemand.

Dann kommt sie zu den letzten beiden Stufen. Sie sehen harmlos aus. Sind sie aber nicht. Ganz und gar nicht. Eine der Stufen ist niedriger als die anderen. Ein Konstruktionsfehler oder böse Absicht. Robin setzt den Fuß hinab, verpasst die Kante, rutscht ab und fällt. Nicht schön. Nicht elegant. Kein Filmsturz. Sie landet auf dem Hintern, hart, der Aufprall fährt ihr bis in die Wirbelsäule.

Aus der Küche hört sie ein Geräusch. Eine Tasse. Eine Stimme. Jemand ist wach. Robin schließt die Augen, atmet durch und denkt nur: Ich verlasse dieses Haus. Ich verlasse dieses Haus. Ich verlasse dieses gottverlassene Haus, bevor noch jemand fragt, warum die Ärztin von Jerome barfuß auf der Treppe sitzt.

  • Jerome, 18, etwas lädiert
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    6
    ·
    5 days ago

    Jerome kommt mehr die Treppe Hoch gekrabbelt als gelaufen

    Yoyoyooo Vee vee Veldmann? Bbbi bii biiitch! Nikooo? Duuuu? Ihr? LOOOL

    • Dr. med. cand. R VeldmanOP
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      5
      ·
      5 days ago

      Herr von Hohen… Jerome. Was genau machst du da auf dieser Treppe? Du hättest keinen einzigen Tag früher aus dem Krankenhaus gehen dürfen, geschweige denn drei Wochen. Du kannst froh sein, dass du dir nicht schon wieder etwas gebrochen hast.

      Sie macht zwei Schritte auf ihn zu, bleibt aber stehen, weil sie nicht sicher ist, ob sie ihm helfen soll, oder ob das nur ein Sturzrisiko für beide wäre.

      Du gehörst zurück ins Krankenhaus. Und zwar dringend. Du hast immer noch eine residuelle Sehstörung rechts, du hast Gleichgewichtsausfälle und deine Neurophysiologie ist weit entfernt von stabil.

      Robin räuspert sich, der Blick wandert kurz zu Niko, dann schnell wieder zu Jerome.

      Und… das hier… Sie gestikuliert minimal zwischen sich und Niko. …ist irrelevant. Es war ein… unglückliches Timing.

      Sie dreht sich halb weg, greift in ihre Tasche und sucht hektisch.

      Ich wollte dir ohnehin etwas dalassen. Hier sind Flyer für die ambulante Physiotherapie, die dir empfohlen wurde. Außerdem die Kontaktdaten des Pflegedienstes, den du abgelehnt hast.

      Sie zieht die Flyer hervor, drückt sie Jerome in die Hand. Inklusive noch einen Flyer.

      Und das hier ist eine Übersicht für behindertengerechtes Wohnen.

        • Dr. med. cand. R VeldmanOP
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          5
          ·
          5 days ago

          Eine neurologische Einschränkung ist keine Beleidigung. Und wenn du glaubst, ich lasse mich auf dieses Niveau ein, dann hast du deinen Schädel ganz offensichtlich noch nicht vollständig auskuriert.

          • Jerome, 18, etwas lädiert
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            5
            ·
            5 days ago

            grummelt etwas und dreht sich auf der Treppenstufe um und verpasst die Stufe und knallt mehrere Stufen runtert

            Auch fuck! Nichts passiert!

            • Dr. med. cand. R VeldmanOP
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              ·
              5 days ago

              Das Krachen ist kaum verklungen, da ist Robin schon in Bewegung. Sie geht sofort in die Hocke, ohne nachzudenken.

              Jerome! Nicht bewegen.

              Sie checkt in Sekunden das Wichtigste: Atmung, Reaktion der Pupillen im Dämmerlicht, Beweglichkeit der Finger, ob er die Beine anwinkeln kann.

              Hast du Schmerzen?

                • Dr. med. cand. R VeldmanOP
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                  ·
                  5 days ago

                  Robin lässt sofort seinen Arm los und richtet sich wieder auf.

                  Weißt du was, Jerome? Wenn du so unbedingt den schnellen Weg zurück in die Notaufnahme suchst, dann mach genau so weiter.

                  Sie zeigt mit dem Kinn auf die Stufen, die er hinunter gestürzt ist.

                  Das hier wird nicht gut ausgehen, wenn du dich so überschätzt. Neurologisch instabile Patienten - und ja, das bist du - verlieren nach Stürzen gern Funktionen, die wir mühsam zurückerarbeitet haben. Aber das ist jetzt nicht mehr meine Verantwortung.