Neugierig blickt sie ihr Spiegelbild an, ihr eigenes Gesicht starrt zurück - verwegen, wild, fast fremd. Sie sieht sich nicht häufig selber. Die lange, schmale Narbe unter dem rechten Auge erzählt eine Geschichte von einem langen, wilden Kampf, das rote Haar umrahmt ihr Gesicht, die grünen Augen funkeln ungezähmt. Für einen ganz kurzen Augenblick wird ihr Gesicht weich, als sie an früher denken muss. Damals hatte eine alte, vielleicht ihre einzige Freundin ihr den Namen “Princess” gegeben, halb im Scherz, halb mit ehrlicher Bewunderung. Heute trägt sie den Namen stolz, obwohl niemand ihn kennt. Doch die Wärme der Erinnerung verfliegt schnell: Das gefährliche Leuchten in ihren Augen kehrt zurück und vom Prinzessinnenhaftem ist nicht mehr viel geblieben. Nur Wut. Und Hunger.

Grade, als sie den Blick heben will, segelt ein trockenes Blatt in die Pfütze, in der sie sich betrachtet hat und löst ihr Spiegelbild in kleine Wellen auf. Reflexhaft schnellt ihre Pfote vor. Wasser spritzt und ihr Bild zerfällt, als ob es nie existiert hätte. Princess richtet sich auf und schüttelt ihr Fell zurecht. Ihr Rücken wölbt sich zu einem großen Bogen, der gefährlich und athletisch wirkt. Dann atmet sie ein, füllt die Lungen mit der frischen Luft ihres neuen Reiches und lässt ein kurzes, etwas heiseres Mraaaau erklingen. Selbstbewusst. Trotzig. Kämpferisch.

Dann setzt sie sich in Bewegung. Lautlos tragen ihre Pfoten sie über die Weide unter dem Baumhaus, in dem sie seit ein paar Tagen schläft. Vor ihr leuchten die Fenster der Häuser warm auf, der Duft von Abendessen weht ihr entgegen, lockend, vertraut, einladend. Doch Princess verspürt keinen Funken Sehnsucht nach einem Heim, nach Menschen, die sie behüten, nach regelmäßigen Mahlzeiten. Sie liebt die Straße, lebt sie seit vielen Jahren. Und sie hat nicht vor, dieses Leben je wieder herzugeben. Eine Maus, die sie selbst erlegt hat, oder ein Kotelett, das sie selbst erbeutet schmecken viel besser als Trockenfutter aus der Dose. Freiheit schmeckt nach Blut, nach Wildheit, nach Mut. Und das Wasser aus Bach und Pfütze, kühl und lebendig, gibt ihr mehr Kraft als jedes tote Wasser aus einem Hahn.

Heute wagt Princess zum ersten Mal den Schritt hinein in die eigentlichen Straßen ihres neuen Reviers. Seit drei Tagen streift sie durch die Randbereiche des Dorfes, immer im Kreis um die bewohnten Häuser herum, tastet sich mit der geduldigen Vorsicht einer Jägerin voran. Jede Nacht hat sie die Luft geprüft, jedes Geräusch studiert, jeden Geruch bewertet. Nun hält sie die Zeit für gekommen. Einige Bedrohungen hat sie bereits ausgemacht. Im Süden, hinter einem verwitterten Zaun, liegt eine Herde gewaltiger Kühe, flankiert von pelzigen, langhalsigen Wesen, deren träge Kaugeräusche selbst im Wind vibrierend nachhallen. Princess hält Abstand, nicht aus Angst, sondern aus Berechnung. Große Tiere sind unberechenbar, und Geduld hat sie genug. Im Dorf selbst ist Konkurrenz unterwegs: ein paar Kater und Katzen, wohlgenährt, satt und mit einer Arroganz, wie nur Haustiere sie haben. Sie bewegen sich langsam, müde vom Nichtstun, ohne die Wildheit, die Princess im Blut trägt. Sie mustert sie aus der Ferne, doch sie fürchtet sie nicht. Träge Gegner sind keine Gegner. Weitaus gefährlicher ist der wütende Königspudel, dessen Kläffen wie ein zorniges Trommelfeuer durch die Gassen hallt. Er hat ihre Fährte aufgenommen und sie beinahe erwischt. In Zukunft wird sie vor ihm besser aufpassen. Und dann ist da dieser andere Hund, groß, schwerfällig. Er wirkt müde, fast weltfremd, als würde er im Schlaf weiterlaufen. Princess hält ihn für ungefährlich, aber unterschätzen wird sie ihn nicht. Niemals. Niemanden. Noch merkwürdiger ist jedoch die Herde Enten in einem der Gärten. Ein dichtes, watschelndes Heer, das plappert, schnattert, flattert, als stünde es ständig kurz vor einem Aufstand. Princess beobachtet sie mit schmalen Augen. Vielleicht - nur vielleicht - erwischt sie eine, wenn sie unachtsam sind.

Mit sanften Pfoten und ohne ein Geräusch erklimmt Princess erst eine Mauer, dann ein Dach und huscht über den First, um dem Licht einer Straßenlaterne zu entgehen. Die Dächer sind sicher. Auf den Straßen sind Menschen unterwegs, Autos und Fahrräder. Die Dächer sind ihr Reich. Ein Spatz fliegt empört piepend auf, er hatte sich auf dem Dach sicher gefühlt, doch sie würdigt ihn keines Blickes. Zu klein, zu schnell, zu viele Federn. Auf der anderen Seite des Daches hüpft sie hinunter und landet auf einem Balkon. Die Tür steht weit offen und ein köstlicher Duft strömt ihr entgegen. Sie tritt selbstbewusst ein und folgt der Nase, bis sie in einer Küche steht. Niemand zu sehen. Sie springt auf den Küchentresen, und da liegen sie vor ihr: Ein ganzer Teller Hackbällchen, ungebraten, die Pfanne steht bereit. Sie frisst den ersten sofort und als sie das Geräusch von sich nähernden Schritten hört nimmt sie einen zweiten in den Mund, springt federleicht vom Tresen, läuft selbstbewusst zurück auf den Balkon und verschwindet in der Nacht.

  • KalleGrabowski@lemmy.world
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    27 days ago

    Kalle ist die Katze schon vorgestern auf seiner TTV-Runde durch den Finsterforst aufgefallen. Kurz haben sich die beiden gemustert. Raubtiere die sich begegnen und Kalle könnte schwören das sie sein kurzes Respektgrußnicken erwidert hat bevor sie ihre Wege fortsetzten. Heute Abend stellt er einen kleinen Napf mit Barf-Fleisch auf die Frontveranda (unglaublich welche Mengen man davon über hat wenn überraschend ein Komodowaran verstirbt)

    • 🟢 Princess 🐈OP
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      27 days ago

      Leise schleicht Princess über die Mülldeponie, ein Ort, den sie gestern lange aus der Ferne beobachtet hat. Tagsüber ein lauter Ort, mit viel Lärm und noch mehr LKWs, doch nachts liegt er fast friedlich da. Princess setzt jeden Schritt vorsichtig und bedacht und konserviert ihre Energie, falls eine Flucht nötig wird.

      Sie wählt den für sie sichersten Weg zur Veranda, über das kleine Vordach. Sanft landen vier Pfoten auf den Holzdielen, fast ohne ein Geräusch zu verursachen. Sie atmet konzentriert aus und sammelt alle Sinne. Sie hat fast Respekt vor dem Menschen, der hier wohnt. Aber nur fast. Er wirkt gefährlich, aber ist immer noch ein Mensch.

      Sie schnuppert an dem Fleisch in der Schüssel. Es riecht köstlich, aber auch nach etwas Fremden, dass sie nicht einordnen kann. Princess nimmt zwei Stücke in ihr Maul, erklimmt mit ausgefahrenen Krallen einen der Holzbalken, die das Veranda-Dach stützen und frisst sie in Ruhe auf dem sicheren Dach.

      • KalleGrabowski@lemmy.world
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        27 days ago

        Drinnen sitzt Kalle im Wohnzimmer, blättert Prospekte durch, trinkt ein Export und greift ab und zu in die Erdnussdose. Ein Geräusch was den meisten Menschen wahrscheinlich entgangen wäre lässt ihn kurz auf schauen. Er grinst ein bisschen, greift in die Erdnussdose und murmelt ein “Hömma guten Hunger” bevor die Erdnuss in seinem Mund verschwindet