⚠️ Triggerwarnung / Content Note
Dieser Text enthält realistische Schilderungen medizinischer Notfälle, Reanimationsmaßnahmen, schwere Verletzungen und innerklinischer Abläufe auf einer Intensivstation. Die Szenen können für manche Leser*innen emotional belastend oder retraumatisierend wirken. ⚠️
03:12 Uhr, Bereitschaftszimmer.
Das Bett ist hart, das Licht flackert durch die Jalousie. Robin liegt auf dem Rücken, den Kittel noch an, die Augen geschlossen, aber nicht wirklich schlafend. Die Luft riecht nach kaltem Kaffee und Desinfektion, so, wie sie es inzwischen gewohnt ist. Auf dem Flur lacht jemand - die Stationsleitung, eindeutig. Kruse lacht mit. Eine Tür fällt zu. Robin verdreht im Dunkeln die Augen. Sie weiß, was das bedeutet.
Dann - das Piepen. Erst leise, dann drängender. Ihr Pager. Sie braucht einen Moment, um sich zu orientieren, tastet nach dem Gerät auf dem Nachttisch. Zimmer 314 - Blutdruckabfall unter 70. Sie ist sofort wach, greift nach dem Stethoskop und rennt.
Das Licht im Gang schneidet ihr ins Gesicht, grell und feindlich nach der Dunkelheit des Bereitschaftszimmers. Der Boden glänzt, als wäre er frisch gewischt, jeder Schritt hallt zu laut, für ihr übermüdetes Gehirn. Der Weg zu Zimmer 314 zieht sich, als würde der Flur sich mit jedem Schritt verlängern. Sie beschleunigt. Dann die Kurve. Ihre Schuhsohle rutscht auf dem feuchten Linoleum weg, sie verliert das Gleichgewicht und fällt hart auf die Hüfte. Der Aufprall reißt ihr die Luft aus der Lunge. Ein kurzer Schmerz, hell und scharf, zieht ihr bis in die Rippen. Sie presst die Lippen zusammen, so fest, dass sie den metallischen Geschmack von Blut schmeckt, stützt sich mit einer Hand am Boden ab und steht wieder auf. Sie läuft weiter, stolpert fast in die Zimmertür. Der Weg hat sich angefühlt wie ein Marathon, obwohl es nur dreißig Meter waren. Ihr Herz rast, sie spürt den Schmerz in der Hüfte mit jedem Atemzug, aber sie schiebt ihn weg. Sie atmet einmal tief durch, bevor sie die Tür aufstößt. Das helle Licht schlägt ihr entgegen - weiß, kalt, unbarmherzig. Monitore piepen, Stimmen überschlagen sich.
Zwei Schwestern stehen am Bett.
„Blutdruck 68 zu 40, Sättigung fällt!“
„Wie viel Noradrenalin läuft?“
„Fünf Milliliter pro Stunde.“
„Dann rauf auf acht“, sagt Robin, automatisch.
Sie geht zur Medikamentenstation und nimmt den Perfusor aus der Halterung. Ihre Handgriffe sind automatisch: aufziehen, anschließen, einstellen. Acht Milliliter pro Stunde. Die Leitung klickt ein, der Motor summt leise, gleichmäßig. Sie lehnt sich nach vorn, stützt eine Hand auf die Reling, blickt auf den Monitor. Der Druck steigt. Ein Moment Erleichterung. Doch dann steigt er weiter.
„Hundertvierzig!“, ruft eine Schwester. „Hundertsiebzig!“
„Was?“ Sie schaut auf die Kurve, kann den Anstieg kaum fassen. „Abstellen! Sofort!“
Das Piepen kippt in ein Kreischen.
„Das kann nicht sein…“
Der Druck springt auf zweihundert, die Linie rast und bricht ab. Ein Ton, langgezogen und schneidend.
„Kein Puls mehr!“
„Reanimation!“
Robin drückt auf den Alarmknopf, greift selbst auf die Thoraxmitte und beginnt mit der Herzdruckmassage. Sie zählt leise mit. „Eins, zwei, drei, vier…“ Schweiß läuft ihr den Nacken hinab, sie hört ihren eigenen Atem nicht mehr. Das Beatmungsgerät rauscht weiter, stößt im Takt Luft in die Lungen. Dann schlägt die Tür auf. Doktor Kruse. Barfuß, Hemd halb offen, die Haare strubbelig.
„Was ist passiert?“
„Noradrenalin… Druckschock… Asystolie!“
Kruse wirft nur einen kurzen Blick auf die Medikamentenleiste, die Pumpen, das Chaos und versteht sofort.
„Adrenalin, ein Milligramm, sofort! Beatmung sichern!“, sagt er, während er sich Handschuhe überstreift. Er schiebt Robin beiseite und übernimmt, als wäre es Routine. Seine Bewegungen sind ruhig, präzise, fast schon unheimlich kontrolliert.
Die Schwester reicht die Spritze.
„Weiterdrücken.“
Robin macht weiter, hört das Brechen von Rippen unter ihren Handballen. Zweimal. Dreimal.
„Defibrillator laden - 200 Joule.“
„Geladen!“
„Zurücktreten.“\
Das Klicken klingt, als würde jemand im Raum einen Schalter umlegen. Ein greller Blitz flackert auf, der Defibrillator entlädt sich. Der Geruch von verbrannter Haut hängt in der Luft. Für einen Moment hört Robin nichts - kein Piepen, kein Rauschen, nur das eigene Blut in ihren Ohren. Dann, ganz leise, ein einzelner Ton. Noch einer. Der Monitor flackert, eine Linie bewegt sich. Rhythmus. Schwach, brüchig. Aber da.
Kruse sieht auf den Monitor. „Sinusrhythmus. Schwach, aber da.“
Er zieht die Handschuhe ab und sieht sie an. Da erst fällt ihr Blick auf die Medikamentenleiste - auf die Spritze, die sie verwendet hat. Der Aufkleber: 1 mg/5 ml. Zehnmal so stark, wie es hätte sein dürfen. Es dauert, bis sie begreift. Ihr Magen zieht sich zusammen, als würde jemand darin einen Knoten machen.
„Was haben Sie getan?“
„Ich… ich hab mich vergriffen.“
Kruse blickt kurz auf den Monitor, dann auf sie. „Sie hatten Glück, dass ich wach war. Sonst wäre er jetzt tot. Seine Organe sind immer noch brauchbar.“ Er geht zum Waschbecken und wäscht sich die Hände. Seine Bewegungen sind langsam, methodisch, ruhig.
„Dokumentieren. Und gehen Sie dann nach Hause.“
„Ich…“
„Nach Hause.“ Und damit verlässt er das Patientenzimmer.
Robin steht da, die Hände noch auf dem Bett, der Puls hämmert in ihren Ohren. Sie schaut auf den Monitor. Herzfrequenz 74. Blutdruck 110. Sättigung 97. Alles wieder normal. Sie merkt erst jetzt, dass ihr Gesicht nass ist. Sie weiß nicht, ob von Schweiß oder Tränen. Hinter ihr bewegen sich die Schwestern, leise Stimmen, Schritte, das kurze Klirren von Metall. Alles läuft weiter. Das Bett wird gerichtet, Geräte kontrolliert, Schläuche neu gelegt. Routinen, die weiterlaufen, als wäre nichts passiert. Robin bleibt reglos. Ich hätte ihn fast getötet. Der Gedanke kommt plötzlich und ohne Fluchtmöglichkeit. Robin spürt, wie ihr Hals eng wird, wie die Luft flach bleibt. Für einen Moment spult ihr Kopf die Szene in Endlosschleife ab: die Spritze in ihrer Hand, das Klicken der Pumpe, das Kreischen des Alarms, das Drücken, das Brechen - alles in Zeitlupe. Ihre Finger zittern, also verschränkt sie die Hände, bis die Nägel in die Haut schneiden. Der Schmerz hilft ihr, klar zu bleiben. Zu funktionieren. Dann dreht sie sich um und geht.

