Sie hatten ihn längst abgeschrieben. Drei Tage nach der Operation hieß es in der Morgenbesprechung, die Prognose sei hoffnungslos. „Keine Besserung, keine selbstständige Atmung, keine Reaktion auf Schmerzreiz.“, hatte Kruse gesagt. Auf dem EEG waren minimale Ausschläge zu sehen - winzige Wellen, zu klein, um für die großen Tiere relevant zu sein. „Artefakte“, meinte der Radiologe. „Technisches Rauschen.“
Aber Robin glaubte das nicht. Sie hatte gesehen, wie am Tag seiner Ankunft etwas in seinem Gesicht gezuckt hatte. Nur einen Bruchteil einer Sekunde, kaum wahrnehmbar, aber es war da gewesen und sie wollte nicht glauben, dass das nichts bedeutete. Vielleicht, denkt sie, sieht man irgendwann so viele Körper, so viele Gesichtet, dass man verlernt, in ihnen nach Leben zu suchen.
Dr. Kruse hatte sie offiziell als Hauptverantwortliche für den Verlauf eingetragen. „Sie übernehmen die Visite, Vitalparameter, Flüssigkeitsbilanz und neurologische Kontrolle. Und dokumentieren alles sauber.“ Seitdem war sie täglich bei ihm.
Lange kam niemand. Kein Anruf, keine Angehörigen, keine Blumen. Nur sie und die Maschinen. Dann, plötzlich, vier auf einmal. Sie kamen direkt zu ihm, ohne zu zögern, stellten ihre Taschen ab, redeten leise auf ihn ein, als würden sie das jeden Tag tun. Für einen Moment hatte man gehofft, es wären Verwandte - Menschen, die über den weiteren Verlauf entscheiden könnten. Aber sie waren bloß Freunde. Robin wusste nicht genau, warum sie das erleichterte. Vielleicht, weil jetzt niemand die Maschinen abschalten würde. Vielleicht auch, weil sie froh war, nicht mehr die Einzige zu sein, die ihm Gesellschaft leistet.
07:15 Uhr.
Robin betritt das Zimmer, noch bevor sie ihren Kaffee austrinkt. Der Geruch nach Desinfektionsmittel liegt schwer in der Luft und überdeckt alles, auch die Müdigkeit, die das Koffein schon längst nicht mehr unterdrücken konnte. Sie überprüft zuerst die Beatmung: Einstellungen, FiO₂, PEEP, Tidalvolumen. Dann die Drainage: klarer Liquor, kein Rückstau. Sie notiert: SpO₂ 98 %, Herzfrequenz 86, Blutdruck 124/70 unter Noradrenalin 0,04 µg/kg/min. Temperatur 36,9.
Sie prüft die Pupillenreaktion: träge, aber vorhanden. Hornhautreflex, Hustenreflex, Schmerzreiz: Nichts. Dann die Flüssigkeitsbilanz: ZVD konstant bei 6 mmHg, Bilanz plus 480 ml, Diurese ausreichend. Sondenlage kontrolliert, Ernährung läuft mit 50 ml/h. Sie trägt alles in das Kurvenblatt ein, so sorgfältig, als würde sein Leben wirklich irgendwann davon abhängen.
Bevor sie geht, zieht sie den Vorhang etwas beiseite und lässt Licht hinein. Offiziell, weil sie das helle, sterile Neonlicht hasst. Inoffiziell, weil sie denkt, dass er so vielleicht weiß, dass draußen Tag ist.
13:45 Uhr.
Mittagspause. Offiziell zumindest. Inoffiziell sitzt sie in Zimmer 314, isst ihr Sandwich (Vollkorn, Käse, Schinken. Immer dasselbe.) auf dem Besucherstuhl, das Kurvenblatt auf dem Schoß.
Sie erzählt ihm, dass die Kaffeemaschine wieder spinnt und das Wasser heute nach Chlor schmeckt. Dass Dr. Kruse neuerdings jede zweite Frage mit „Das müssen Sie wissen, Frau Doktor.“ kommentiert. Dass die neue Pflegepraktikantin mit Eyeliner und Glitzer-Nägeln aufgetaucht ist und Robin nicht wusste, ob sie sie bemitleiden oder beneiden soll.
Dann erzählt sie von letzter Nacht. Dass sich eine der EEG-Elektroden gelöst hatte und sie zwei Stunden lang dachte, er hätte aufgehört zu reagieren. Erst später, als sie die Kontakte kontrollierte, merkte sie, dass eine Elektrode verrutscht war. Und für einen Moment, nur ganz kurz, hatte sie Hoffnung gespürt. Ein dummer, unprofessioneller Gedanke: dass er sich vielleicht bewegt hatte, dass er selbst das Kabel gelockert haben könnte. Nahezu unmöglich. Aber sie hielt es trotzdem für möglich.
Wenn die Linie ausschlägt, redet sie weiter. Wenn sie flach bleibt, redet sie trotzdem. Und wenn sie nichts mehr zu sagen hat, liest sie ihm vor, damit ihm nicht langweilig wird. Was absurd ist, wenn man bedenkt, dass er vermutlich nichts davon mitbekommt, aber vielleicht geht es ja auch gar nicht um ihn.
19:30 Uhr.
Abendroutine. Sie überprüft Sedierung und Analgesie, reduziert kurz Propofol und Sufentanil, um die Reaktionslage zu testen. Nichts. Pupillen unverändert. EEG zeigt dieselben minimalen Ausschläge. Der Hirndruck bleibt stabil unter 15 mmHg.
Sie protokolliert, spült die ZVK-Leitungen, legt neue Perfusoren an. Dann bleibt sie kurz stehen, die Hände an der Reling seines Betts. Draußen ist es längst dunkel. Dr. Kruse längst nicht mehr im Krankenhaus. „Ich geh jetzt“, sagt sie leise. „Versuch, keinen Ärger zu machen.“ Dann steht sie noch einen Moment da, als würde sie auf eine Antwort warten, die sie längst aufgegeben hat zu erwarten.


Vanja kommt während der Besuchszeit vorbei und spielt Jerome die neue Haftbefehl Doku vor @JeromederKing@lemmy.dorfrollenspiel.de