⚠️ Triggerwarnung / Content Warning
Folgende Szene enthält Darstellungen von:
• Zugunfall
• Schwere Verletzungen
• Schockzustände und Panik
• Medizinische Notfallmaßnahmen
• Eingeklemmten Patienten
Wenn dich Themen rund um reale Unfallsituationen, medizinische Notfälle oder traumatische Ereignisse belasten, lies bitte vorsichtig oder überspringe diesen Text. ⚠️
Der Rucksack schlägt bei jeder Bodenwelle gegen Robins Schuh - dumpf, rhythmisch, wie ein Pulsschlag, der ihren nicht beruhigt, sondern beschleunigt. Sie sitzt angeschnallt auf der schmalen Bank des RTW, Finger so ineinander verhakt, als müsste sie sie festhalten, damit niemand bemerkt, dass sie zittert. Kruse sitzt ihr gegenüber, Ellenbogen auf den Knien, Blick wach, Stimme ruhig: „Drei Waggons sind betroffen. Opferzahl unklar. Feuerwehr triagiert. Ich will keine Heldenscheiße sehen.“ Der letzte Satz gilt nicht dem Team. Sondern ihr. Eine Erinnerung daran, dass sie ihren Patienten beinahe umgebracht hat.
Noch bevor das Fahrzeug ganz steht, zieht Kruse die Seitentür auf. Rauch und Stimmen schlagen in die Kabine. Diesel. Metall. Hitze. Robin löst den Gurt, schnappt den Rucksack und springt in etwas, das aussieht wie ein aufgeschnittener Organismus. Der Zug liegt wie ein Fremdkörper quer über dem Gleis. Der erste Wagen noch halb in der Spur, der zweite halb im Schotterbett, der dritte in einem Winkel, der jeden falschen Schritt rächen würde. Und das Auto - falls man es so nennen darf: Ein Kleinwagen, aufgeschlitzt, der Motorblock nur noch ein geschwärzter Klumpen. Die Fahrerseite platt wie Karton. Niemand überlebt das.
Überall liegen Gegenstände. Jacken. Rucksäcke. Schuhe. Scherben. Ein Teddybär ohne Arm. Menschen sitzen. Schreien. Knien. Eine Frau hält eine fremde Hand und schreit. Ein Mann starrt ins Autowrack, als könnte Hoffnung materialisieren, wenn man es lange genug probiert.
Kruse lässt den Blick gleiten, kurz, aber chirurgisch präzise: „Wir verteilen uns. Stabilisieren. Wenn ihr unsicher seid, ruft mich.“
Robin schafft drei Schritte, bevor sie fast umgerannt wird. „Vorsicht!“ Sie fängt den Körper reflexartig ab und erkennt das Gesicht. Das blonde Mädchen aus Nikos WG. Die WG, in der sie vor einigen Tagen nicht hätte schlafen sollen. Die WG, in der sie neben einem Mann aufgewacht ist, von dem sie jetzt nicht einmal sicher weiß, was er für sie ist. Stacy sieht aus, als hätte der Zug sie durch ein Mosaik geschoben: Blut an der Stirn, Haare wild und die Kleidung dreckig.
„Doktor Veldman?!“
„Ja. Sind Sie verletzt?“
„Ich… nein… glaub nicht… aber Niko! Bitte! Sein Bein! Er steckt fest und…“
„Bringen Sie mich zu ihm.“
Stacy rennt. Robin folgt.
Der Einstieg zwischen den Waggons wirkt, als hätte jemand einen Körper im OP eröffnet: Metallkanten wie aufgerissene Faszien, Sperrholzsplitter wie kollagene Stränge, alles schief, alles instabil. Sie klettern über zwei umgestürzte Sitze, dann über eine verbogene Verkleidung. Und dann sieht Robin ihn. Seitlich eingeklemmt, halb unter dem Sitzgestell. Rechtes Bein rotatorisch fehlgestellt - Tibiafraktur hoch wahrscheinlich. Linke Schulter luxiert. Haut feucht, grau. Shock. Aber wach.
„Niko? Hörst du mich?“
„Hh… hey… Rob…“
„Nicht reden. Antworte nur mit Ja oder Nein.“
Sein Puls an der Carotis: schnell, aber nicht drohend. Shock Grad I–II. Stacy steht neben ihnen wie ein Drahtseil, kurz vorm Reißen.\
„Kann ich irgendwas tun? Ich…“
„Nein. Sie stehen im Einsturzbereich. Wenn der Wagen nachgibt, liegen Sie drunter.“
„Aber…“
„Sie wollen, dass ich ihm helfe. Dann gehen Sie. Ich brauche Platz.“
Der Kampf in Stacys Gesicht ist sichtbar. Es dauert eine Weile bis sie antwortet: „Gut. Aber wenn du ihn sterben lässt, bring ich dich um!“ Und sie verschwindet.
Robin versucht nicht, darüber zu lachen. Es wäre unprofessionell.
„Niko. Ich stabilisiere dein Bein. Das… wird weh tun.“
„Al…les… guuut… Doc…“
Ihre Hände arbeiten automatisch: proximal fixieren, keine Reposition, Gefäße freihalten. „Keine arterielle Blutung. Perfusion grenzwertig. Risiko Kompartiment.“ Sie dokumentiert laut, um konzentriert zu bleiben. Und auch, weil sie sich damit selbst daran hindert, zu denken: Ich habe vor wenigen Tagen in seinem Bett geschlafen.
Kruse ruft von draußen: „Veldman?! Was haben Sie?“
„ORANGE! Bewusst. Keine Atemprobleme. Keine neurologischen Ausfälle.“
Kruse erscheint im Durchgang, die Feuerwehr arbeitet um ihn herum wie ein Schwarm roter Ameisen. Er sieht zu Niko, dann zu Robin. „Gut. Machen Sie ihn transportfähig. Und Veldman…“
„Ja?“
„Konzentriert bleiben.“ Es klingt neutral. Aber ein Stich fährt ihr durchs Zwerchfell, weil für einen Sekundenbruchteil ihr primitiver, unbrauchbarer Instinkt hochschießt: Er weiß es. Völlig irrational. Er kann gar nichts wissen. Es wäre unmöglich.
Robin fixiert das Bein provisorisch - schnell und präzise. Niko zuckt kurz, zieht die Luft durch die Zähne, kämpft mit dem Schmerz, aber er bleibt wach. Seine linke Schulter polstert sie ab, stabilisiert sie streng ohne Zug - Dislokationen werden hier nicht reponiert, schon gar nicht bei möglicher Begleitfraktur.
„Niko, hörst du mich?“
„Ja.“
„Wir bringen dich jetzt in den RTW, aber wir bewegen dich erst, wenn das Spineboard da ist. Du bleibst still. Verstanden?“
Er nickt.\
Von draußen ist Stacys Stimme zu hören laut und panisch: „GEHT ES IHM GUT?!“
„Er lebt.“ antwortet Robin knapp. „Gehen Sie weg vom Wagen. Das hier ist instabil.“\
Stacy zögert, aber sie geht. Und Robin hat wieder Platz zum Arbeiten.
Sie kontrolliert Atmung, Pupillen, Haut. Tachykard. Haut kühlfeucht. Perfusion grenzwertig. Shockgrad I–II. Stabil genug zum Transport, aber nicht ohne Schienung.
„Ich brauche Spineboard, zwei Männer und Sauerstoff.“\ „Kommt in 30 Sekunden!“ ruft einer zurück.
Dreißig Sekunden. Genug, um festzustellen, dass er sie ansieht. Nicht panisch. Nicht flehend. Nur klar, wach und wachsend schmerzgezeichnet. Genug auch, dass Robin für einen Moment spürt, wie privat diese Situation eigentlich ist. Der Gedanke an davor, an letzte Woche, klopft an. Aber sie lässt ihn nicht rein. Dann ist das Spineboard da. Feuerwehr. Sanis. Blickwechsel, Positionsabsprachen.
Robin übernimmt: „Ich halte Tibia und Schulter. Ihr bringt das Board unter ihn und anschließend durch die Öffnung. Auf mein Zeichen.“\
„Verstanden.“
„Drei. Zwei. Eins.“\
Sie ziehen. Niko beißt sich auf die Lippe, presst Luft aus den Lungen. Die Position ist nicht perfekt, aber medizinisch ausreichend.\
„O₂-Maske, sechs Liter.“
„Transportbereit.“
Robin nickt nur. Er gehört weg von der Gefahrenzone. Und doch fühlt sie einen kurzen Stich im Bauch, als würde ihr ein Teil der Kontrolle genommen.


Robin streift an den Einsatzkräften vorbei, den Blick auf den nächsten Verletzten gerichtet, als sie am Rand zwei Personen erkennt, die nicht hier sein sollten. Sie wirken kreidebleich, Augen weit, suchend. Robin bleibt vor den WG-Mitbewohnern stehen.
Euren Freunden geht es gut. Niko ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Schulterluxation und Beinfraktur, aber kein vitales Risiko. Stacy hat nur oberflächliche Verletzungen. Sie müsste noch irgendwo hier sein… Mehr darf ich nicht sagen.
Und dann wendet sie sich wieder ab, routiniert, kalt, funktional- weil sie in diesem Moment Ärztin sein muss, nicht jemandes Bekannte.
Boha müssen Ärzte immer so überheblich sein ey?!
Freddy schaut sich um, ob er Stacy irgendwo entdeckt.
Ich hoffe Niko geht’s gut…
Stacy geht etwas orientierungslos über den Unfallort, bis ihr Blick an einer vertrauten Silhouette hängenbleibt. Ist das Freddy…? Als Vanja hinter ihm hervortritt, ist sie sich sicher. Ohne weiter nachzudenken setzt sie sich in Bewegung (immer noch den winzigen Waschbären fest an sich gedrückt). Sie sprintet los, und wirft Freddy beinahe um, als sie ihren freuen Arm fest um ihn schlingt. Freddy!!
Freddy atmet erleichtert durch, als plötzlich Stacy vor ihm steht und ihn umarmt. Tausend schreckliche Gedanken sind plötzlich weggewischt. Er erwidert die Umarmung.
Fuck siehst du scheiße aus!! Geht es dir gut?! Was ist passiert?? Und warum hast du einen Waschlappen in der Hand?!
Mir geht’s gut!! Jetzt erst recht!! Ich war nur kurz pinkeln und dann… keine Ahnung, alles ist auf einmal passiert! Jedenfalls bin ich direkt zu Niko gerannt und… ich der hat bald ein Bein weniger, so wie der aussah… Fuck… ich fahr nie wieder Zug! Ich bin eh viel lieber Passenger Princess!! Stacy schmiegt sich wieder an Freddy und hält ihm das winzige Baby direkt vor die Nase. Und das ist kein Waschlappen!!! Das ist ein Waschbär!!! Seine Familie ist tot… Wir müssen uns um ihn kümmern!
DER HAT EIN BEIN WENIGER?? Wtf!!! Ach du scheiße!!!
WAS?! NEIN!!! Aber ich glaub das Bein muss ab, so wie das aussah!!
Ach du scheiße… oh man. Das ist übel…
Gehen wir nach Hause?