Robin wird wach, bevor ihr Gehirn wirklich begriffen hat, wo sie ist. Der erste Hinweis ist der Kater hinter den Augen. Der zweite die Wärme neben ihr. Der dritte - der schlimmste - die Stimme in ihrem Kopf: Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte NICHT.
Sie dreht den Kopf. Dunkelhaarig. Bartansatz. Breite Schultern. Niko. Der Niko. Jeromes Niko. Der Mitbewohner ihres Patienten. Ihres ersten Patienten. Des Falls, der ihr in sämtlichen Fortbildungen noch Jahre vorgehalten werden wird. Super. Wirklich. Großartig. Sie schiebt vorsichtig die Bettdecke weg, als würde sie eine Operation ohne Anästhesie durchführen, und versucht, nicht daran zu denken, wie Katastrophal das alles ist.
Sie setzt einen Fuß auf den Boden. Knarren. Natürlich. Okay. Langsam. Keine Panik. Es ist nur ein Ex-Patienten-Mitbewohner. Sie greift ihre Jeans, die am Fußende liegt, zieht sie im Halbdunkel an und sammelt Schuhe, Jacke, Handy und Würde ein - zumindest glaubt sie das. Die Tür öffnet sich mit einem Geräusch, das eindeutig aus einem Horrorfilm stammt. Sie verzieht das Gesicht, schlüpft hinaus und schließt die Tür millimeterweise. Immerhin das gelingt ihr.
Sie steht vor der Treppe, die ihr kilometerweit vorkommt. Die Sorte, bei der jede Stufe einen eigenen Namen, eine eigene Persönlichkeit und eine eigene Schmerzachse hat. Erster Schritt: leises Knacken. Zweiter Schritt: lautes Knarzen. Dritter Schritt: vollständiger Verrat. Die Stufe quietscht, als hätte sie einen persönlichen Groll. Robin presst die Lippen zusammen, atmet durch und geht weiter. Vielleicht hört sie ja niemand.
Dann kommt sie zu den letzten beiden Stufen. Sie sehen harmlos aus. Sind sie aber nicht. Ganz und gar nicht. Eine der Stufen ist niedriger als die anderen. Ein Konstruktionsfehler oder böse Absicht. Robin setzt den Fuß hinab, verpasst die Kante, rutscht ab und fällt. Nicht schön. Nicht elegant. Kein Filmsturz. Sie landet auf dem Hintern, hart, der Aufprall fährt ihr bis in die Wirbelsäule.
Aus der Küche hört sie ein Geräusch. Eine Tasse. Eine Stimme. Jemand ist wach. Robin schließt die Augen, atmet durch und denkt nur: Ich verlasse dieses Haus. Ich verlasse dieses Haus. Ich verlasse dieses gottverlassene Haus, bevor noch jemand fragt, warum die Ärztin von Jerome barfuß auf der Treppe sitzt.


Stacy kommt in den Flur mustert die Ärztin, macht sich einen Zopf vor dem Spiegel, erwähnt kurz, dass die Kaffeemaschine in der Küche ist und verschwindet dann aus der Haustür.
Robin sitzt immer noch auf dem Boden, zwischen der vorletzten und der letzten Stufe, der Stelle, an der diese architektonisch kriminelle Treppe beschlossen hat, sie umzubringen. Ihre Hüfte pocht. Ihr Stolz auch.
Eine Person kommt herein - blond, jung, perfekt gestylt, als würde sie gleich auf ein Shooting gehen und nicht… naja, vor sieben Uhr morgens einfach existieren. Das Mädchen mustert sie - nicht unfreundlich, eher überrascht, so wie man ein Möbelstück sieht, das eigentlich nicht in einen Flur gehört. „Kaffeemaschine ist in der Küche.“ sagt sie, während sie ihre Haare zu einem makellosen Zopf zusammenzieht. Die Bewegungen sind präzise, elegant, in einem Tempo, das Robins Gehirn um diese Uhrzeit als Angriff wertet. Robin blinzelt. Einmal. Dann noch einmal. Sie sitzt immer noch auf dem Boden.
Äh… danke. Ich… äh… suche eigentlich eher den Ausgang.
Das Mädchen nickt nur, greift nach einer Tasche und verschwindet zur Haustür. Kein Kommentar. Keine Frage. Kein Wer sind Sie? oder Warum liegen Sie auf unserem Boden?