Kruse sitzt im Büro, über dem Laptop gebeugt, als Robin einschneit - ohne zu klopfen, zu schnell, zu entschlossen. Die Tür fällt zu laut ins Schloss. Er hebt langsam den Kopf, die Brille etwas schief.
„Doktor Veldman?“
„Ich möchte, dass Sie mir erklären, warum Sie meinen Therapieplan für Herrn von Hohenburg-Lichtenhain gestrichen haben.“ Sie legt ihm die Akte auf den Tisch. „Es ist nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, dass Sie meine Anpassung genehmigt haben. Und jetzt ist alles wieder gelöscht.“ Ihr Herz rast, aber ihr Gesicht bleibt hart.
„Weil Ihr Vorschlag…“ Er tippt auf die Akte. „…euphorisch war.“
Robin schluckt, aber weicht nicht zurück. „Er reagiert auf Sprache. Er zeigt Eigenatem, Flexion, Lidrhythmik. Das sind valide Gründe…“
„…für Sorgfalt.“ Seine Stimme wird schärfer, aber nicht lauter. „Nicht für übermotivierte Experimente. Sie reduzieren zu schnell. Sie setzen zu sehr auf Reiztherapie.“
„Weil er Fortschritte macht!“, fährt sie zurück. Zu laut. Sie merkt es sofort.
„Ich weiß, dass er Fortschritte macht.“
„Dann hören Sie auf, meine Pläne umzuschreiben!“
Kruse lehnt sich zurück, verschränkt die Arme ineinander. „Sie hängen an diesem Fall. Und das ist gefährlich.“
Robin lacht. „Gefährlich wäre es, nichts zu tun.“
„Gefährlich…“ korrigiert er „…ist, wenn Sie ihn für eine Erfolgsgeschichte halten, bevor eine existiert. Sie jagen einem Ideal hinterher, das neurologisch völlig ungesichert ist.“
„Und Sie jagen Statistiken hinterher. Irgendjemand muss hier an den Menschen glauben.“
Kruse steht auf. Die Spannung im Raum wird körperlich. „Medizin ist kein Glaubenskrieg, Doktor Veldman. Und Sie sind gefährlich nah dran, denselben Fehler zu wiederholen wie erst vor einer Woche.“
Der Schlag sitzt. Tiefer als sie zeigen will. Für einen Moment ist es still. Sie spürt die Hitze hinter den Augen, aber zwingt sie zurück. „Wenn Sie mir das noch einmal vorwerfen…“ beginnt sie und stoppt.
Kruse betrachtet sie wie ein undeutliches Laborergebnis. „Sie wollen wissen, wieso ich Ihren Behandlungsplan wieder gestrichen habe? Fein.“ Er tippt wieder auf die Akte. „Zu schnelle Reduktion erhöht das Risiko für vegetative Entgleisungen. Zu frühe Reizüberflutung destabilisiert Patienten mit diffuser Axonalschädigung. Sie wissen das.“
„Ich kenne das Risiko. Und trotzdem sehe ich einen jungen Mann, der zum ersten Mal reagiert. Ich werde ihn nicht aus Angst vor Ihnen stagnieren lassen.“
„Angst ist nicht Ihr Problem.“ Kruse tritt näher. „Ihr Problem ist Hoffnung.“
„Und Ihres ist Zynismus.“
Er blinzelt. Minimal überrascht.\
Sie greift nach der Türklinke. „Sie können mir den Fall entziehen. Aber solange er mir gehört, bekommt er jede Chance, die ich ihm geben kann.“ Sie öffnet die Tür.
Kruses Stimme folgt ihr, kalt und messerscharf: „Sie laufen auf einer Gratkante, Doktor Veldman!“
Sie antwortet nicht.
Robin geht den Gang hinunter, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht jedoch glatt wie eine sterile Edelstahlfläche. Nur ihr zu schneller Schritt verrät, dass sie innerlich brennt. Im Schwesternzimmer sitzen zwei Pflegekräfte an den Computern.
„Bitte streichen Sie Kruses Änderung für Herrn von Hohenburg-Lichtenhain. Wir gehen zurück zum ursprünglichen Plan.“
Zwei Köpfe drehen sich gleichzeitig. Schwester Jana räuspert sich vorsichtig. „Das… können wir nicht ohne Freigabe vom Chefarzt.“
„Ich übernehme die Verantwortung. Streichen Sie es.“
Bevor Jana antworten kann, wandert ihr Blick an Robin vorbei und sie erstarrt. Robin weiß sofort, dass jemand hinter ihr steht. Sie dreht sich um. Kruse. Nicht überrascht. Nicht wütend. Nur gelassen - fast zufrieden, als hätte er exakt diesen Moment einkalkuliert.
„Natürlich.“ sagt er ruhig. „Doktor Veldman setzt sich über meine Anordnung hinweg. Ich habe es kommen sehen.“
Robin presst die Lippen zusammen. „Ich tue, was medizinisch sinnvoll ist.“
„Nein. Sie tun, was Sie glauben, was sinnvoll ist.“ Er tritt näher, mit der Ruhe eines Mannes, der die Situation längst durchschaut hat. „Sie sagten mir vor zwei Minuten, dass Sie alles tun werden, solange es Ihr Fall ist. Und hier stehen Sie nun und tun genau das.“
Robins Kiefer spannt sich. „Sie haben mir die Verantwortung übertragen. Dann lassen Sie mich meinen Job machen.“
„Das hier ist kein Machtspiel, Doktor Veldman.“ Eine schneidende Pause. „Wenn Sie wirklich die Sedierung schneller reduzieren wollen…“ sagt er schließlich „…dann tun Sie es offiziell.“ Seine Stimme wird kälter. „Eine zu schnelle Reduktion kann vegetative Entgleisungen verursachen - Bradykardien, hypertensive Krisen, einen ansteigenden ICP und im schlimmsten Fall einen erneuten Rückfall ins Koma. Nicht zwingend, aber möglich. Wenn Sie bereit sind, dieses Risiko zu tragen, dann streichen Sie meine Anordnung.“ Er dreht sich halb weg, wirft aber noch einen letzten Satz über die Schulter: „Glauben Sie nur nicht, dass ich Ihren Mist am Ende wieder ausbaden werde.“ Dann verlässt er das Zimmer.
Schwester Jana sieht Robin vorsichtig an. „Also… soll ich es streichen?“
„Ja.“ Robins Blick bleibt ruhig, ruhiger als zuvor, fast unheimlich entschlossen.
Robin verlässt das Schwesternzimmer und geht geradewegs Richtung 314. Noch bevor sie das Zimmer erreicht, merkt sie, wie ihre Hände zittern. Nicht aus Angst, sondern aus dieser brennenden Mischung aus Wut, Hoffnung und Verantwortung, die sie seit Tagen mit sich herumträgt. Als sie die Klinke herunterdrückt und die Tür hinter sich ins Schloss fällt, bricht etwas in ihr - lautlos, aber spürbar. Die Haltung, dieses perfekte, kontrollierte Gerüst, das sie seit Monaten trägt, rutscht ihr von den Schultern wie ein zu schwerer Mantel.
„Ich habe mich durchgesetzt.“ Ein leiser Bruch in der Stimme. „Kruse wird mich dafür zerreißen. Wenn’s schlecht läuft, verliere ich den Fall. Wenn’s richtig schlecht läuft… meinen Job.“ Ihre Kehle zieht sich zu. Sie presst die Lippen fest zusammen und spürt die Hitze in den Augen aufsteigen. Sie versucht, es wegzuschlucken. Scheitert. „Aber ich kann nicht danebenstehen und so tun, als wäre hier nichts. Du hast in vierundzwanzig Stunden mehr geschafft als in drei Monaten. Und ich werde nicht abwarten, nur weil es sicherer wäre.“
Sie atmet ein - scharf, zittrig. Erst danach findet sie wieder halbwegs in die Routine zurück. „Also…“ Sie setzt die Finger an den Perfusor, bei dem die Propofol-Spritze eingerastet ist. Die Hand zittert noch leicht. „Wir machen weiter.“ Mit einer kontrollierten Bewegung tippt sie die neue Rate ein. Die Pumpe bestätigt den Wert mit einem leisen Klick. Etwas schnürt ihr den Brustkorb zusammen. Kein Triumph. Keine Furcht. Etwas dazwischen - wie Mut und Fahrlässigkeit, die im selben Atemzug existieren.


Das hätte Robin nicht erwartet. Sie räuspert sich, als müsse sie die Emotion aus der Stimme herausdrücken. Sie stellt sich etwas gerader hin, versucht professionell zu wirken, aber der Moment hat sich schon zwischen ihre Rippen geschoben. Gern… Das ist mein Job. Du… Sie machen das gut. Sehr gut sogar. Aber jetzt strengen Sie sich nicht weiter an. Ihre Muskeln und Sprachzentren sind noch nicht soweit. Das war schon mehr, als ich heute erwartet habe.