Im Kleebachtal weiß jedes Kind: Wenn’s nach Zwetschgen duftet und der Wind vom Wolfswald her weht, dann hat die alte Heidi von Wolfeisen wieder gebacken. Und wer klug ist, hält sich fern von ihrem Haus — denn Heidi hat einen Blick, der Butter sauer werden lässt, und ein Gedächtnis wie ein Buchhalter.
Doch an jenem Herbstabend, als der Nebel so tief hing, dass selbst die Kühe auf der Weide verschwanden, waren Kalle von der Alten Mühle und Schorschi der Zimmerer nicht klug. Oder besser gesagt: nicht mehr ganz nüchtern.
Sie hatten den ganzen Nachmittag über an Schorschis neuer Werkbank gearbeitet – Kalle mit Hammer, Schorschi mit Krug. Irgendwann war’s schwer zu sagen, was sie häufiger geschwungen hatten.
„Kalle,“ lallte Schorschi, „weißt du, was mir fehlt? A g’scheiter Nachtisch.“ „Mir fehlt eher Ruh’,“ brummte Kalle, „und n Wirtshaus, das länger offen hat.“
Doch kaum waren die Worte verklungen, zog ein süßer Duft über die Felder – warm, würzig, verführerisch. Zwetschgen, Zimt und irgendwas, das verdächtig nach Sünde roch. „Das kommt vom Wolfswald her,“ flüsterte Schorschi. „Da wohnt doch die alte Heidi,“ knurrte Kalle. „Dann backt sie hoffentlich doppelt.“
Und so stapften sie los, durch Nebel, über Wurzeln, bis sie die kleine Hütte erreichten, schief wie Schorschi nach dem dritten Krug. Auf der Fensterbank stand er – der Kuchen. Rund, goldbraun, dampfend. Ein Kunstwerk.
„Wir nehmen nur ein Stück,“ flüsterte Schorschi. „Ein halbes,“ warnte Kalle. „Ein ganzes halbes,“ sagte Schorschi und schnitt – nun ja – die größere Hälfte ab.
Doch kaum hatten sie den ersten Bissen getan, hörten sie hinter sich eine Stimme, rau wie alter Kirschschnaps: „Na, schmeckt’s wenigstens?“
Da stand sie – Heidi von Wolfeisen, mit einem Besen in der einen und einem Kessel in der anderen Hand. Ihre Katze fauchte, ihr Blick funkelte.
Kalle schluckte schwer. „Äh… wir prüfen nur die… äh… Qualität!“, stotterte er. „Genau! Im Namen des Gesundheitsamts vom Kleebachtal!“, rief Schorschi.
Heidi starrte sie lange an. Dann, völlig unerwartet, fing sie an zu lachen – so laut, dass der Wald zurücklachte. „Wenn ihr schon klaut,“ kicherte sie, „dann macht’s wenigstens ordentlich.“ Und sie reichte ihnen zwei Löffel. „Damit ihr nicht wieder mit den Händen fresst wie Schweine.“
Seitdem sagt man, dass Kalle jeden Monat einen silbernen Löffel irgendwo auf seinem Recyclinghof findet – und Schorschi schwört, Heidi habe einmal in der Nacht vor seiner Werkstatt gestanden und ihm ein ganzes Blech Zwetschgenkuchen dagelassen.
Nur eines ist sicher: Wenn’s im Kleebachtal wieder nach Kuchen riecht, sperrt Kalle das Tor zu, und Schorschi sagt:
„Ich geh heut lieber nüchtern schlafen.“ Und beide wissen: Das hilft sowieso nichts.

